Günther R.
25.07.2004, 16:44
In diesem Forum wird viel über Belästigung am Telefon geschrieben.
Hier eine kleine Geschichte, um den interessierten Lesen einen kleinen Einblick in die CC Branche zu geben.
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Letztes Jahr im September 2003 bewarb ich mich beim Call Center XXX in XY.
Zu dieser Zeit hatte das Unternehmen gerade eine große Werbekampagne zur Gewinnung neuer Mitarbeiter laufen, TV Sender, Radio und Zeitungen wurden eingeladen um überregional über das Unternehmen zu berichten.
Die Firma XXX gibt es seit mehreren Jahren und war ursprünglich in einer Großstadt angesiedelt. Um Kosten zu sparen, wurde beschlossen, den Unternehmenssitz ins billigere Ostbayern zu verlegen.
Mehrere Orte bemühten sich damals um den Zuschlag, zum Schluß machte mein Heimatort XY das Rennen, seitdem ist mir die Firma ein Begriff. Was die Firma jedoch genau macht, wusste ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht, ich wusste, dass es sich um ein Call Center handelt aber das ist schließlich ein sehr weit gefasster Begriff.
Zwei Wochen nach meiner Bewerbung wurde ich Anfang Oktober 2003, genauso wie ca. 35 andere Leute, zu einer kostenlosen 5-tägigen Grundschulung eingeladen. Dort erfuhren wir, in welchem Bereich die Firma tätig ist: Abgesehen von ein paar kleineren Aufträgen werden hauptsächlich SKL Lose verkauft.
Schon nach wenigen Stunden war für mich klar: Nein, das ist nichts für mich ! Trotzdem erschien ich auf am zweiten Tag und auch an den Folgetagen, ich war einfach neugierig, was mich noch so alles erwarten wird.
Die meisten der anderen Teilnehmer waren wohl nicht so neugierig wie ich, die Teilnehmerzahl nahm von Tag zu Tag ab, waren es am Montag noch ca. 35 Leute, so blieb am Freitag Nachmittag nur noch ein Rest von ca. 10 Personen.
Die Grundschulung teilte sich in 3 Bereiche:
a) Produktschulung über SKL Lose
b) Rhetorische Schulung
c) 2 Tage Testtelefonie
Punkt a) dürfte klar sein. In Punkt b) wurden Themen wie „Wie baue ich ein Gespräch auf“, „Welche Fragen muss ich stellen“; „Wie bringe ich den Kunden zum Träumen“, „Wie leite ich zum Produkt über“, „Wie bringe ich den Kunden so weit, dass er kauft“, „Wie kann ich Argumente des Gesprächspartner entkräften, wenn mir dieser z.b. die Kontonummer nicht geben möchte“, und vieles mehr. Das Ziel von jedem Gespräch ist es, den Kunden über das Telefon so zu manipulieren, dass dieser ein SKL Los kauft.
An den 2 Tagen Testtelefonie telefonierten wir mit richtigen Kunden, dabei wurden wir von der Schulungsleiterin abgehört.
Am Donnerstag Abend musste ich eine schwere Entscheidung treffen: Was ist, wenn du morgen tatsächlich genommen wirst ? Nimmst du an oder lehnst du ab ? Der Beruf als Call Agent erfordert Aufgeschlossenheit, viel Spaß am Reden und es darf einem nichts ausmachen, den ganzen Tag „Türklinken zu putzen“, drei Sachen, die bestimmt nicht auf mich zutreffen.
Ohne eine Entscheidung getroffen zu haben, ging ich in den fünften Tag. Gegen Mittag wurde mir mitgeteilt, dass ich als Call Agent genommen werde und ich nahm die Offerte an, obwohl mir dabei alles andere als gut zumute war. Ich entschied mich jedoch nicht für Vollzeit (37,5 Stunden pro Woche) sondern für Teilzeit mit 30 Stunden in der Woche.
Eine Woche später hatte ich und sieben andere den ersten Arbeitstag. Die Firma hatte zu diesem Zeitpunkt sechs unabhängige Teams, sogenannte „Profit-Center“, ich wurde einem Team zugeteilt, das von einer etwa 35jährigen Frau geführt wurde.
Anschließend wurde ich aufgefordert, meinen Dienstplan für Oktober und November in den PC einzugeben. Ich dachte mir: „Mein Gott, bis Ende November sind noch 6 Wochen und so lange bin ich bestimmt nicht hier !“.
Das sollte sich später als falsch herausstellen !
Die ersten beiden Arbeitstage waren katastrophal, ich hatte keinen einzigen SKL Los-Verkauf und war mehrmals kurz davor das Handtuch endgültig zu werfen.
Aber ab den dritten Tag besserte sich meine Lage, plötzlich lief es sehr gut für mich und diese „Hochphase“ sollte bis Ende Januar 2004 anhalten.
Trotzdem hatte ich keinerlei Spaß an der Arbeit, genauso wie die meisten der anderen Call Agents.
Dafür gab es mehrere Gründe. Erstens bin ich nicht (so wie bereits oben beschreiben) der Typ, der zum Call Agent taugt.
Dann die Arbeitsbedingungen: Man sitzt 7 Stunden pro Tag auf einer ein Quadratmeter großen Fläche vor dem PC incl. Headset und muss SKL Lose verkaufen. Eine sehr monotone Arbeit und eine sehr anstrengende zugleich. Wie sich jeder vorstellen kann, reagieren viele der Angerufenen ärgerlich, zum Teil wird man ganz schön heftig beschimpft.
Dazu hat man einen gewaltigen Leistungsdruck: Es wird einem vorgeschrieben, wie viele Leute man pro Stunde anrufen muss (Nettokontakte), wie viele Los-Verkäufe man pro Stunde tätigen muss, wie viel Zeit man maximal pro Tag zwischen den Telefonaten brauchen darf (After-Call-Zeit) und vieles mehr. Und wehe die Zahlen stimmen nicht !
Oft kam ich mir vor, wie ein moderner Sklave ! Und den anderen Call Agents ging es genauso. Dies alles schlägt sich nieder in einer riesigen Fluktuation und einem gigantisch hohen Krankenstand , was ein erhebliches wirtschaftliches Problem für die Firma darstellt.
Innerhalb von 6 Monaten haben in meinem Team rund 50% (!!!) der Leute gekündigt, es war ein ständiges Kommen und Gehen, in den anderen Teams schaute es auch nicht viel besser aus und der Krankenstand lag bei rekordverdächtigen 20%.
Deshalb wurde von der Geschäftsleitung extra eine außerordentliche Betriebsversammlung einberufen, um den Mitarbeitern zu zeigen, welche Folgen durch ihre ständige Krankmacherei entstehen.
Dabei wird aber meiner Meinung nach nur an den Symptomen rumgedoktort, anstatt das Übel an den Wurzeln zu packen.
Sehr geringe Bezahlung auf der einen und ein gewaltiger Leistungsdruck auf der anderen Seite sind eben nicht sehr motivierend für die Mitarbeiter.
Dazu kommt, dass die meisten Mitarbeiter nur deshalb bei der Firma sind, weil sie (momentan) nichts Besseres haben.
Zusammengesetzt ist die Belegschaft fast ausschließlich durch junge Leute, die in ihrem erlernten Beruf keine Stelle mehr finden, und älteren Leuten, die auf dem Arbeitsmarkt von heute keine Chance mehr haben. Oft hatte ich das Gefühl, hier arbeiten nur Leute, die man in anderen Firmen nicht mehr will.
Call Agents, die eigentlich gar keine sein möchten + niedrige Bezahlung + großer Leistungsdruck + keine Perspektive = Hohe Fluktuation und hoher Krankenstand; ich glaube, durch diese einfache Formel kann man die ganze Misere auf den Punkt bringen.
Jedoch möchte ich ausdrücklich erwähnen, dass die Firma in anderen Bereichen sehr sozial ist, wenn man mal von der Bezahlung und vom Leistungsdruck absieht.
Die Geschäftsführerin, eine recht ansehnliche Dame im mittleren Alter, war immer sehr um die Belegschaft bemüht, sie wirkte uns gegenüber stets freundlich und engagiert, da kann man nichts Negatives sagen.
Auch den Betriebsratsvorsitzenden muss man unbedingt positiv erwähnen, ein schon etwas älterer Herr, der stets ein offenes Ohr für die Mitarbeiter hatte.
Bis Ende 2003 hatte die Firma noch einen externen Berater, der oft in der Firma war. Auch dieser hat insgesamt einen sehr guten Job gemacht, genauso wie der CC Leiter.
Meine Teamleiterin kündigte Mitte Dezember (bzw. sie wurde gekündigt ?) und wurde anschließend durch einen älteren Herrn, Marke: Ich arbeite hier, weil ich sonst auch nichts mehr bekomme, ersetzt. Mit dem hatte ich so meine Probleme. Privat denke ich, ist er ein super Typ, aber in beruflichen Dingen ist er für meinen Geschmack zu verbissen, dies führte mehrmals zu offenem Streit mit ihm.
Das Verhältnis unter den Mitarbeitern war übrigens ebenfalls sehr gut. Wie schon gesagt, im Grunde ist die Firma absolut in Ordnung, aber der Leistungsdruck und die Bezahlung macht die Firma untragbar, genau deshalb betrachte fast jeder Mitarbeiter die Firma XXX nur als Durchgangsstation. Jeder versucht, so schnell wie möglich den Absprung zu schaffen.
Ich verbrachte insgesamt rund 85 Arbeitstage, verteil auf 6 Monate, in der Firma, weitaus mehr als ich mir anfangs zugetraut habe.
Jeder Tag war frustrierend, immer das gleiche, blöde Geschwätz am Telefon, die monotone Arbeit, immer und immer wieder diese blöden SKL Lose verkaufen, der Leitungsdruck, die – meiner Meinung nach – unseriöse Gesprächsführung am Telefon, usw.
Da ruft man dann bei den Leuten an, gibt sich als „Mitarbeiter der 5 Mio Euro SKL Show mit Günter Jauch“ aus und quatscht die Leute voll.
„Wie hat Ihnen denn unsere Sendung gefallen ?“
„Haben Sie alleine geschaut oder gemeinsam mit der Familie ?“
„Was würden Sie mit 100.000 Euro machen ?“
„Wollen Sie denn auch mal Kandidat bei Günter Jauch werden ? Ja, dann müssen Sie ein Los kaufen !“
Offiziell entspricht dies zwar, wie man mir mitteilte, nicht der „Firmenphilosophie“ aber wenn man damit erfolgreich ist, dann passt das schon. Erfolg heiligt die Mittel ! Zuerst textet man die Leute zu, damit sie ein Los kaufen und dann quatscht man weiter, bis man die Bankverbindung bekommt. Wer ein bißchen Anstand hat, der kommt sich dabei ziemlich blöd vor. Ich kam mir ziemlich oft blöd und billig vor, weil ich auf diese Art und Weise mein Geld verdiente.
Trotz allem stimmten bis Ende Januar 2004 meine Verkaufsergebnisse, das änderte sich aber in der Folgezeit.
Ich dachte immer öfter an Kündigung um das Ganze endgültig zu beenden, zumal ich ab Herbst 2004 sowieso eine weitaus bessere Stelle als Beamter sicher habe.
Diese Stelle war in der ganzen Zeit mein „As im Ärmel“. Ich war nie von der Firma XXX abhängig, deshalb nahm ich meine stark sinkenden Verkaufszahlen ziemlich gelassen hin und wenn ich von einem meiner Vorgesetzt (Teamleiter + stellvertretender Teamleiter – ein ehemaliger NVA Soldat -) auf verschiedene Sachen angesprochen wurde (zu wenig Verkäufe, zu hohe After-Call-Zeiten) dann haben ich denen einfach ein wenig Honig um den Mund geschmiert und die Sache war OK.
Andere hatten es nicht so leicht. Vor allem mit Männer mit 45 Jahren und älter hatte ich oft Mitleid. Da sitzen sie dann und versuchen verzweifelt für 1.000 Euro netto im Monat SKL Lose an den Mann zu bringen um nicht selbst ins soziale Aus zu geraten. Wer seine Vorgaben nicht erfüllt, der fliegt raus, und mit 45 Jahren hat man heutzutage keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt.
Ich hingegen kündigte innerlich und saß ab Anfang Februar 2004 meine Zeit nur noch unmotiviert ab. Nachdem ich im März wieder mal krank geschrieben war, bekam ich die Kündigung zum Ende der Probezeit. In der 2-wöchigen Kündigungsfrist wurde ich von der Arbeit freigestellt; da ich bereits kurz zuvor aus „taktischen Gründen“ meinen Resturlaub genommen habe, kam die Freistellung einem bezahlten Sonderurlaub gleich.
Im Nachhinein bereue ich mein Engagement bei der Firma XXX übrigens nicht, ich habe einiges gelernt (vor allem in rhetorischer Hinsicht) und damit bin ich zufrieden.
Hier eine kleine Geschichte, um den interessierten Lesen einen kleinen Einblick in die CC Branche zu geben.
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Letztes Jahr im September 2003 bewarb ich mich beim Call Center XXX in XY.
Zu dieser Zeit hatte das Unternehmen gerade eine große Werbekampagne zur Gewinnung neuer Mitarbeiter laufen, TV Sender, Radio und Zeitungen wurden eingeladen um überregional über das Unternehmen zu berichten.
Die Firma XXX gibt es seit mehreren Jahren und war ursprünglich in einer Großstadt angesiedelt. Um Kosten zu sparen, wurde beschlossen, den Unternehmenssitz ins billigere Ostbayern zu verlegen.
Mehrere Orte bemühten sich damals um den Zuschlag, zum Schluß machte mein Heimatort XY das Rennen, seitdem ist mir die Firma ein Begriff. Was die Firma jedoch genau macht, wusste ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht, ich wusste, dass es sich um ein Call Center handelt aber das ist schließlich ein sehr weit gefasster Begriff.
Zwei Wochen nach meiner Bewerbung wurde ich Anfang Oktober 2003, genauso wie ca. 35 andere Leute, zu einer kostenlosen 5-tägigen Grundschulung eingeladen. Dort erfuhren wir, in welchem Bereich die Firma tätig ist: Abgesehen von ein paar kleineren Aufträgen werden hauptsächlich SKL Lose verkauft.
Schon nach wenigen Stunden war für mich klar: Nein, das ist nichts für mich ! Trotzdem erschien ich auf am zweiten Tag und auch an den Folgetagen, ich war einfach neugierig, was mich noch so alles erwarten wird.
Die meisten der anderen Teilnehmer waren wohl nicht so neugierig wie ich, die Teilnehmerzahl nahm von Tag zu Tag ab, waren es am Montag noch ca. 35 Leute, so blieb am Freitag Nachmittag nur noch ein Rest von ca. 10 Personen.
Die Grundschulung teilte sich in 3 Bereiche:
a) Produktschulung über SKL Lose
b) Rhetorische Schulung
c) 2 Tage Testtelefonie
Punkt a) dürfte klar sein. In Punkt b) wurden Themen wie „Wie baue ich ein Gespräch auf“, „Welche Fragen muss ich stellen“; „Wie bringe ich den Kunden zum Träumen“, „Wie leite ich zum Produkt über“, „Wie bringe ich den Kunden so weit, dass er kauft“, „Wie kann ich Argumente des Gesprächspartner entkräften, wenn mir dieser z.b. die Kontonummer nicht geben möchte“, und vieles mehr. Das Ziel von jedem Gespräch ist es, den Kunden über das Telefon so zu manipulieren, dass dieser ein SKL Los kauft.
An den 2 Tagen Testtelefonie telefonierten wir mit richtigen Kunden, dabei wurden wir von der Schulungsleiterin abgehört.
Am Donnerstag Abend musste ich eine schwere Entscheidung treffen: Was ist, wenn du morgen tatsächlich genommen wirst ? Nimmst du an oder lehnst du ab ? Der Beruf als Call Agent erfordert Aufgeschlossenheit, viel Spaß am Reden und es darf einem nichts ausmachen, den ganzen Tag „Türklinken zu putzen“, drei Sachen, die bestimmt nicht auf mich zutreffen.
Ohne eine Entscheidung getroffen zu haben, ging ich in den fünften Tag. Gegen Mittag wurde mir mitgeteilt, dass ich als Call Agent genommen werde und ich nahm die Offerte an, obwohl mir dabei alles andere als gut zumute war. Ich entschied mich jedoch nicht für Vollzeit (37,5 Stunden pro Woche) sondern für Teilzeit mit 30 Stunden in der Woche.
Eine Woche später hatte ich und sieben andere den ersten Arbeitstag. Die Firma hatte zu diesem Zeitpunkt sechs unabhängige Teams, sogenannte „Profit-Center“, ich wurde einem Team zugeteilt, das von einer etwa 35jährigen Frau geführt wurde.
Anschließend wurde ich aufgefordert, meinen Dienstplan für Oktober und November in den PC einzugeben. Ich dachte mir: „Mein Gott, bis Ende November sind noch 6 Wochen und so lange bin ich bestimmt nicht hier !“.
Das sollte sich später als falsch herausstellen !
Die ersten beiden Arbeitstage waren katastrophal, ich hatte keinen einzigen SKL Los-Verkauf und war mehrmals kurz davor das Handtuch endgültig zu werfen.
Aber ab den dritten Tag besserte sich meine Lage, plötzlich lief es sehr gut für mich und diese „Hochphase“ sollte bis Ende Januar 2004 anhalten.
Trotzdem hatte ich keinerlei Spaß an der Arbeit, genauso wie die meisten der anderen Call Agents.
Dafür gab es mehrere Gründe. Erstens bin ich nicht (so wie bereits oben beschreiben) der Typ, der zum Call Agent taugt.
Dann die Arbeitsbedingungen: Man sitzt 7 Stunden pro Tag auf einer ein Quadratmeter großen Fläche vor dem PC incl. Headset und muss SKL Lose verkaufen. Eine sehr monotone Arbeit und eine sehr anstrengende zugleich. Wie sich jeder vorstellen kann, reagieren viele der Angerufenen ärgerlich, zum Teil wird man ganz schön heftig beschimpft.
Dazu hat man einen gewaltigen Leistungsdruck: Es wird einem vorgeschrieben, wie viele Leute man pro Stunde anrufen muss (Nettokontakte), wie viele Los-Verkäufe man pro Stunde tätigen muss, wie viel Zeit man maximal pro Tag zwischen den Telefonaten brauchen darf (After-Call-Zeit) und vieles mehr. Und wehe die Zahlen stimmen nicht !
Oft kam ich mir vor, wie ein moderner Sklave ! Und den anderen Call Agents ging es genauso. Dies alles schlägt sich nieder in einer riesigen Fluktuation und einem gigantisch hohen Krankenstand , was ein erhebliches wirtschaftliches Problem für die Firma darstellt.
Innerhalb von 6 Monaten haben in meinem Team rund 50% (!!!) der Leute gekündigt, es war ein ständiges Kommen und Gehen, in den anderen Teams schaute es auch nicht viel besser aus und der Krankenstand lag bei rekordverdächtigen 20%.
Deshalb wurde von der Geschäftsleitung extra eine außerordentliche Betriebsversammlung einberufen, um den Mitarbeitern zu zeigen, welche Folgen durch ihre ständige Krankmacherei entstehen.
Dabei wird aber meiner Meinung nach nur an den Symptomen rumgedoktort, anstatt das Übel an den Wurzeln zu packen.
Sehr geringe Bezahlung auf der einen und ein gewaltiger Leistungsdruck auf der anderen Seite sind eben nicht sehr motivierend für die Mitarbeiter.
Dazu kommt, dass die meisten Mitarbeiter nur deshalb bei der Firma sind, weil sie (momentan) nichts Besseres haben.
Zusammengesetzt ist die Belegschaft fast ausschließlich durch junge Leute, die in ihrem erlernten Beruf keine Stelle mehr finden, und älteren Leuten, die auf dem Arbeitsmarkt von heute keine Chance mehr haben. Oft hatte ich das Gefühl, hier arbeiten nur Leute, die man in anderen Firmen nicht mehr will.
Call Agents, die eigentlich gar keine sein möchten + niedrige Bezahlung + großer Leistungsdruck + keine Perspektive = Hohe Fluktuation und hoher Krankenstand; ich glaube, durch diese einfache Formel kann man die ganze Misere auf den Punkt bringen.
Jedoch möchte ich ausdrücklich erwähnen, dass die Firma in anderen Bereichen sehr sozial ist, wenn man mal von der Bezahlung und vom Leistungsdruck absieht.
Die Geschäftsführerin, eine recht ansehnliche Dame im mittleren Alter, war immer sehr um die Belegschaft bemüht, sie wirkte uns gegenüber stets freundlich und engagiert, da kann man nichts Negatives sagen.
Auch den Betriebsratsvorsitzenden muss man unbedingt positiv erwähnen, ein schon etwas älterer Herr, der stets ein offenes Ohr für die Mitarbeiter hatte.
Bis Ende 2003 hatte die Firma noch einen externen Berater, der oft in der Firma war. Auch dieser hat insgesamt einen sehr guten Job gemacht, genauso wie der CC Leiter.
Meine Teamleiterin kündigte Mitte Dezember (bzw. sie wurde gekündigt ?) und wurde anschließend durch einen älteren Herrn, Marke: Ich arbeite hier, weil ich sonst auch nichts mehr bekomme, ersetzt. Mit dem hatte ich so meine Probleme. Privat denke ich, ist er ein super Typ, aber in beruflichen Dingen ist er für meinen Geschmack zu verbissen, dies führte mehrmals zu offenem Streit mit ihm.
Das Verhältnis unter den Mitarbeitern war übrigens ebenfalls sehr gut. Wie schon gesagt, im Grunde ist die Firma absolut in Ordnung, aber der Leistungsdruck und die Bezahlung macht die Firma untragbar, genau deshalb betrachte fast jeder Mitarbeiter die Firma XXX nur als Durchgangsstation. Jeder versucht, so schnell wie möglich den Absprung zu schaffen.
Ich verbrachte insgesamt rund 85 Arbeitstage, verteil auf 6 Monate, in der Firma, weitaus mehr als ich mir anfangs zugetraut habe.
Jeder Tag war frustrierend, immer das gleiche, blöde Geschwätz am Telefon, die monotone Arbeit, immer und immer wieder diese blöden SKL Lose verkaufen, der Leitungsdruck, die – meiner Meinung nach – unseriöse Gesprächsführung am Telefon, usw.
Da ruft man dann bei den Leuten an, gibt sich als „Mitarbeiter der 5 Mio Euro SKL Show mit Günter Jauch“ aus und quatscht die Leute voll.
„Wie hat Ihnen denn unsere Sendung gefallen ?“
„Haben Sie alleine geschaut oder gemeinsam mit der Familie ?“
„Was würden Sie mit 100.000 Euro machen ?“
„Wollen Sie denn auch mal Kandidat bei Günter Jauch werden ? Ja, dann müssen Sie ein Los kaufen !“
Offiziell entspricht dies zwar, wie man mir mitteilte, nicht der „Firmenphilosophie“ aber wenn man damit erfolgreich ist, dann passt das schon. Erfolg heiligt die Mittel ! Zuerst textet man die Leute zu, damit sie ein Los kaufen und dann quatscht man weiter, bis man die Bankverbindung bekommt. Wer ein bißchen Anstand hat, der kommt sich dabei ziemlich blöd vor. Ich kam mir ziemlich oft blöd und billig vor, weil ich auf diese Art und Weise mein Geld verdiente.
Trotz allem stimmten bis Ende Januar 2004 meine Verkaufsergebnisse, das änderte sich aber in der Folgezeit.
Ich dachte immer öfter an Kündigung um das Ganze endgültig zu beenden, zumal ich ab Herbst 2004 sowieso eine weitaus bessere Stelle als Beamter sicher habe.
Diese Stelle war in der ganzen Zeit mein „As im Ärmel“. Ich war nie von der Firma XXX abhängig, deshalb nahm ich meine stark sinkenden Verkaufszahlen ziemlich gelassen hin und wenn ich von einem meiner Vorgesetzt (Teamleiter + stellvertretender Teamleiter – ein ehemaliger NVA Soldat -) auf verschiedene Sachen angesprochen wurde (zu wenig Verkäufe, zu hohe After-Call-Zeiten) dann haben ich denen einfach ein wenig Honig um den Mund geschmiert und die Sache war OK.
Andere hatten es nicht so leicht. Vor allem mit Männer mit 45 Jahren und älter hatte ich oft Mitleid. Da sitzen sie dann und versuchen verzweifelt für 1.000 Euro netto im Monat SKL Lose an den Mann zu bringen um nicht selbst ins soziale Aus zu geraten. Wer seine Vorgaben nicht erfüllt, der fliegt raus, und mit 45 Jahren hat man heutzutage keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt.
Ich hingegen kündigte innerlich und saß ab Anfang Februar 2004 meine Zeit nur noch unmotiviert ab. Nachdem ich im März wieder mal krank geschrieben war, bekam ich die Kündigung zum Ende der Probezeit. In der 2-wöchigen Kündigungsfrist wurde ich von der Arbeit freigestellt; da ich bereits kurz zuvor aus „taktischen Gründen“ meinen Resturlaub genommen habe, kam die Freistellung einem bezahlten Sonderurlaub gleich.
Im Nachhinein bereue ich mein Engagement bei der Firma XXX übrigens nicht, ich habe einiges gelernt (vor allem in rhetorischer Hinsicht) und damit bin ich zufrieden.